Teil 3 der Interviewreihe zur Aktionswoche „Alkohol? Weniger ist besser!”

Teil 3 der Interviewreihe zur Aktionswoche „Alkohol? Weniger ist besser!”

Die Selbsthilfe und damit die organisierte Beratung und Unterstützung unter Betroffenen ist aus dem Gesundheitswesen nicht mehr wegzudenken. Julia Lux, Geschäftsstellenleitung der Gesundheitsregionplus, hat mit zwei Vertretern aus verschiedenen Selbsthilfegruppen, Anonyme Alkoholiker und Kreuzbund, über die Bedeutung der Selbsthilfe und die Arbeit in den Gruppen gesprochen.

Selbsthilfe – was bedeutet das für Sie?

Manfred, Kreuzbund-Gruppe: Hilfe zur Selbsthilfe. Dass ich mir selbst helfen kann, wenn der Suchtdruck kommt oder wie ein Rückfall durch Ratschläge und Tipps aus der Gruppe verhindert werden kann. So können Erfahrungen anderer Gruppenmitglieder und wie diese sich verhalten haben, helfen. Auch das „suchtfrei sein“, muss gelernt werden und hier ist die Selbsthilfe wichtig.

Peter, Anonyme Alkoholiker: Im Großen und Ganzen sehen wir das genauso, nur geben wir keine Ratschläge. Auch uns ist der Erfahrungsaustausch mit Betroffenen, die die Krankheit „auch gelebt haben oder noch leben“, wichtig. Offenes und ehrliches Sprechen über alle Bereiche des täglichen Lebens, natürlich auch positive Ereignisse, d. h. wir sind kein Jammerclub. Zentral ist, dass wir uns Zuhören. Der Einzelne lernt Eigenverantwortung zu übernehmen. Die gegenseitige Unterstützung – eine Form der sozialen Integration – und das Arbeiten an sich selbst, macht das wöchentliche Meeting zu einem festen Termin in meinem Leben (auch an Sonn- und Feiertagen, Weihnachten usw.).

Unter Selbsthilfe stellen sich viele Menschen immer vor, dass man im Kreis sitzt und von sich erzählt. Stimmt das?

Manfred, Kreuzbund-Gruppe: Ja, wir sitzen tatsächlich im Kreis und das hat den Grund, dass wir jede Person, mit der wir reden, ansehen können. Das ist persönlicher und die Gespräche werden offener. Zu Beginn der Runde werden Probleme und Fragen in der Runde besprochen. Es werden aber auch ältere Anliegen wieder aufgegriffen, um zu sehen, ob sich das Problem gelöst hat oder noch Unterstützung benötigt wird. Daraus ergeben sich oft Tipps für andere, die sich in einer ähnlichen Situation befinden.

Peter, Anonyme Alkoholiker: Im Kreis sitzen wir nicht, sondern um einen Tisch – letztendlich kommt es aber auf das Gleiche hinaus, da wir uns auch so platzieren, dass wir uns sehen können. Für uns ist es auch sehr wichtig, dass jeder nur von sich selber erzählt. Das ist richtig und auch notwendig, um bei sich zu bleiben und bei sich zu schauen und um nicht über Andere zu sprechen. Denn das ist bekanntermaßen eine beliebte Strategie, um vom eigenen Thema abzulenken. Wir haben weder eine feste Sitz- noch Rangordnung.

Was macht Ihrer Meinung nach eine gute Selbsthilfegruppe aus?

Peter, Anonyme Alkoholiker: Vertrauen, das gemeinsame Ziel (trockenes Leben), Ehrlichkeit, Kontinuität, keine Zwänge und Hierarchien, Freiwilligkeit, Offenheit, eigenverantwortliches Handeln, Unabhängigkeit in allen Bereichen, Engagement aller Teilnehmer im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten („Dienste“ übernehmen), Flexibilität. Es werden keine „klugen Ratschläge“ erteilt, jeder soll und darf seinen eigenen Weg finden und auch gehen – Liberalität!

Manfred, Kreuzbund-Gruppe: Da kann ich voll mitgehen. Auch ich denke, das Wichtigste ist Offenheit, Ehrlichkeit und, dass jeder von den anderen so akzeptiert wird wie er ist. Vorurteile haben meiner Meinung nach in einer Selbsthilfegruppe absolut nichts zu suchen.

Inwieweit hat sich die Situation für die Selbsthilfegruppen durch die Corona-Pandemie verändert?

Peter, Anonyme Alkoholiker: Kurzfristig konnten keine „Präsenzmeetings“ stattfinden. Diese wurden jedoch innerhalb einer Woche durch ein selbstorganisiertes Online-Meeting behelfsmäßig ersetzt. Es musste ein neuer Meetingraum gesucht werden, in dem nach den Corona-Vorgaben wieder Präsenzmeetings stattfinden konnten. Ein Meetingtermin musste mangels Beteiligung aufgegeben werden. Langfristig – stand heute – läuft das Meeting „normal“ weiter wie bisher. Das Onlinemeeting wurde parallel beibehalten. Leider gibt es bei den Online-Meetings keine Spendeneinnahmen.

Manfred, Kreuzbund-Gruppe: In unserer Gruppe hat sich die Situation – aus der Sicht heute – nur geringfügig verändert. Alle Mitglieder sind weiterhin gekommen. Während der Pandemie haben wir uns digital ausgetauscht, da sich Selbsthilfegruppen eine gewisse Zeit nicht treffen durften.  Viele freuen sich jetzt wieder sehr über die persönlichen Treffen, den Kontakt und das persönliche Gespräch. Von anderen Gruppen aus unserer Dachorganisation weiß ich, dass sich manche aufgelöst oder auch vergrößert haben. Das ist sehr unterschiedlich.

Wer organisiert und leitet die Treffen?

Manfred, Kreuzbund-Gruppe: Die Treffen werden vom Gruppenleiter oder dessen Stellvertreter geleitet und organisiert. Sollte ein Problem oder eine Frage an einem Gruppentreffen nicht geklärt werden, so kann der Gruppenleiter oder Stellvertreter, wenn möglich, bis zum nächsten Mal Informationen einholen. Die Treffen sind zu festen Wochentagen und Uhrzeiten, denn dadurch kommt Routine in den Wochenablauf. Auch eine Planung der Arbeitszeit bzw. Arbeitstage ist so besser möglich.

Peter, Anonyme Alkoholiker: Anonyme Alkoholiker organisiert sich selbst. Es gibt einen „Gruppensprecher/-in“ der bei uns im Jahresturnus wechselt und bei Nichtanwesenheit unbürokratisch von einem anderen ersetzt wird.

Gibt es eine feste Mitgliedschaft und kostet die Teilnahme etwas?

Peter, Anonyme Alkoholiker: Es gibt keine feste Mitgliedschaft und keine festen Beiträge. Die Teilnahme ist kostenlos. Nach jedem Meeting gibt jeder eine freiwillige Spende, je nach den finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen. Hauptsache es reicht jeden Monat für die Raummiete! Bei den Anonymen Alkoholikern ist alles zu 100% ehrenamtlich und ohne jegliche finanziellen Interessen.

Manfred, Kreuzbund-Gruppe: Die Teilnahme an den Gruppentreffen ist kostenlos. Eine freiwillige Mitgliedschaft im Selbsthilfeverein ist jedoch möglich. Mit den Mitgliedsbeiträgen werden zum Beispiel Seminare oder Unterstützungen für die Gruppen organisiert. Es geht also nicht um Gewinn, sondern die Gelder fließen zurück in die Selbsthilfearbeit. 

Können auch Angehörige oder Freunde zu den Treffen mitgebracht werden?

Peter, Anonyme Alkoholiker: Ich glaube, hier unterscheiden sich unsere Konzepte etwas. Bei uns im Regelfall nicht. Es gibt für Angehörige und Freunde eigene Gruppen (Alanon, Alateen). Der Grund dafür ist unsere Erfahrung, dass der Betroffene einfach nicht so frei und ungezwungen sprechen kann, sobald ein Freund*in, Partner*in oder Angehöriger dabei ist. Sei es einfach aus Rücksichtnahme, Scham oder so.

Wir haben schon erlebt, dass ein Betroffener vom Partner*in ins Meeting begleitet wurde. Der Betroffene saß das ganze Meeting dann wie ein „begossener Pudel“ neben seinem Partner*in. Dieser hatte erst einmal Oberwasser und hat für den Betroffenen gesprochen. Das hat dann mit „von sich selber reden“ gar nichts mehr zu tun. Außerdem wissen wir, dass Betroffene und Angehörige die Familienkrankheit Alkoholismus aus völlig anderen Perspektiven wahrnehmen und erleben.

Es besteht aber jederzeit die Möglichkeit, die Gruppe bei Bedarf zu „öffnen“, das liegt im Ermessen und in der Verantwortung jeder einzelnen Gruppe. In der Regel wird niemand weggeschickt oder abgewiesen.

Manfred, Kreuzbund-Gruppe: Genau dieser Aspekt des unterschiedlichen Wahrnehmens ist der Grund warum wir es wiederum für wichtig empfinden, dass Angehörige oder Freunde zu den Treffen mitkommen können. Dort wird Angehörigen oder Freunden oft klar, dass es nicht ihr „böses“ Familienmitglied oder Freund ist, der trotz Versprechungen wieder mal getrunken hat, sondern, dass dieses Verhalten typisches Suchtverhalten ist, welches bei den anderen ebenso vorkommt. Das hilft zu verstehen, nimmt den Groll auf die einzelne Person heraus und die Angehörigen können besser einschätzen, auf was sie achten sollen oder müssen und wie sie sich anders verhalten können.  So kann ein besseres Verständnis für die betroffene Person als auch den Angehörigen geschaffen werden. Insgesamt haben wohl beide Ansätze ein Für und Wider. Und es darf doch auch unterschiedliche Vorgehensweisen geben.

Wie findet man eine passende Gruppe?

Peter, Anonyme Alkoholiker: Infos findet man heute natürlich über das Internet, Beratungsstellen, das Gesundheitsamt usw. Ob eine Gruppe „passt“, kann jeder erst nach mehrmaligem Besuch für sich selbst feststellen.

Manfred, Kreuzbund-Gruppe: Dem kann ich mich nur anschließen. Egal ob sich eine Person verschiedene Konzepte, wie z.B. Kreuzbund oder Anonyme Alkoholiker anschaut, oder wenn es vor Ort mehrere Gruppen gibt. Auch ich rate den Personen, stets mehrere Treffen zu besuchen. Erst danach soll die Person entscheiden, ob die Gruppe passt oder nicht, denn das wichtigste ist, dass die Person sich wohl und respektiert fühlt. Nur auf dieser Grundlage können gute und ehrliche Gespräche geführt werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Infos zu regionalen Selbsthilfegruppen:

  • Anonyme Alkoholiker www.anonyme-alkoholiker.de
  • Kreuzbund www.kreuzbund.de
  • Freundeskreis www.freundeskreise-sucht.de
  • Privat organisierte Suchtselbsthilfe

Infos zu den örtlichen Angeboten auch über die:

  • Suchtfachambulanz Donauwörth, Tel 0906 70595670, E-Mail suchtfachambulanz@diakonie-donauries.de
  • Suchtfachambulanz Nördlingen, Tel 09081 2907030, E-Mail suchtfachambulanz@diakonie-donauries.de