Interview mit der Suchtfachambulanz Donauwörth mit Außenstelle Nördlingen (Diözesancaritasverbandes Augsburg und Diakonie Donau-Ries gGmbH)
„Frauen – sichtbar & gesund“: Unter diesem Motto steht der Jahresschwerpunkt des Staatsministeriums für Gesundheit, Pflege und Prävention 2024. In diesem Rahmen sollen gesundheitliche Aspekte im Leben von Mädchen und Frauen in den Blick genommen werden: Beschwerden und Krankheiten, von denen nur Frauen betroffen sind ebenso wie solche, die bei Frauen häufiger oder anders als bei Männern auftreten. Schon vom frühen Kindesalter an zeigen sich Besonderheiten.
Die Gesundheitsregionplus Donau-Ries beteiligt sich an diesem Schwerpunktthema und möchte u.a. auf das Thema „Essstörungen“ aufmerksam machen. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass etwa 3 bis 5 Prozent der Menschen eine Essstörung haben. Mädchen und Frauen sind besonders betroffen. An Essstörungen erkranken zumeist junge Menschen, aber auch im mittleren und höheren Lebensalter können Essstörungen auftreten. Betroffene und ihre Angehörigen benötigen häufig professionelle Unterstützung, um das Problem gemeinsam zu bewältigen. Eine Anlaufstation zum Thema „Essstörungen“ sind die regionalen Suchtfachambulanzen. Wie diese helfen können und wer sich an sie wenden kann, erläutern Erika Eisenbart von der Suchtfachambulanz Donauwörth und Alisa Engelmann von der Suchtfachambulanz Nördlingen im Interview mit der Gesundheitsregionplus.
Frau Eisenbart, „Essstörungen“ ist heutzutage ein viel verwendeter Begriff. Was bedeutet das?
Erika Eisenbart: Bei Essstörungen denken die meisten zunächst an Magersucht, also an Personen mit extremen Untergewicht oder aber auch an Menschen mit Übergewicht, also der sichtbaren Folge eines unkontrollierten Essverhaltens. Doch diese Sichtweise greift eindeutig zu kurz. Es gibt auch zahlreiche Formen von Essstörungen, die nach außen nicht sichtbar sind, weil die Personen den Eindruck erwecken, alles im Griff zu haben und erfolgreich zu sein. Dies ist beispielsweise bei einer Bulimie der Fall oder auch über einen gewissen Zeitraum beim Binge Eating, einer Form, die gekennzeichnet ist durch Essattacken ohne wie bei der Bulimie sofortige Gegenmaßnahmen wie Erbrechen einzuleiten.
Bei einer Essstörung geht es um viel mehr, als nur um Probleme mit dem Essen. Dahinter verbergen sich oft schwerwiegende psychische Erkrankung mit oftmals weitreichenden körperlichen, seelischen und sozialen Folgen.
Wenn also eine Person sein Essverhalten übermäßig stark einschränkt, kontrolliert oder aber die Kontrolle über das Essverhalten verliert, kann eine Essstörung vorliegen.
Essstörungen zeigen sich auf vielen Ebenen, nicht nur im Essverhalten und Gewicht. Kennzeichnend sind auch zwanghafte Verhaltensweisen und Veränderungen im Kontakt mit sich und anderen, zum Beispiel ein geringes Selbstwertgefühl und sozialer Rückzug.
Wie entstehen Essstörungen?
Erika Eisenbart: Der eigene Körper und das Essverhalten kann subjektiv leichter kontrolliert werden als Situationen im Umfeld und so kann dies bei Überforderung oder bei scheinbar nicht lösbaren Problemen als Ersatz, also als kontrollierbare Situation, erlebt werden.
Der Einstieg geschieht manchmal eher zufällig, z. B. als Fortsetzung einer Diät, da ein bisschen abzunehmen ja meist positive Reaktionen und Anerkennung hervorruft. Manchmal aber auch ganz bewusst, aus einem Gefühl heraus Kontrolle über etwas zu gewinnen, stark zu sein oder auch autonom. Zugrunde liegt aber meist ein Gefühl von mangelndem Selbstbewusstsein oder Verunsicherung, das Erleben von einem hohen Stellenwert von Aussehen und Leistung oder fehlende Anerkennung.
Essen ist aber nicht nur Ernährung. Essen hat auch eine soziale Komponente, d. h. wir gehen schön Essen bei verschiedenen Anlässen oder mit Freunden und wir feiern Feste mit einem schönen Essen. Beim Essen werden darüber hinaus körpereigene Botenstoffe aktiviert, die ein Wohlgefühl auslösen. So kann – je nach Hintergrund einer Störung – Essen als Ersatz, also sich etwas Gutes zu tun, erlebt werden. Oder es wird sich – wie beispielsweise bei der Magersucht – dieses Positive vorenthalten, da man dies – in den eigenen Augen – nicht wert sei, nicht verdient habe. Eine andere Variante ist das Gefühl elitär zu sein, da andere essen müssen, man selbst sich aber maximal unter Kontrolle habe.
Die Zeit zwischen Kindheit- und Erwachsenenalter bringt viele körperliche und psychische Veränderungen mit sich. Parallel zu körperlichen Veränderungen wachsen auch Anforderungen von Eltern, Schule und Gesellschaft an heranwachsende Menschen. Also insgesamt eine recht störanfällige Zeit. Solche Phasen mit seelischem Stress oder Kummer können sich auf das Essverhalten auswirken. Manchmal ist dies nur eine vorübergehende Verhaltensänderung, kann aber bei Vorliegen von Faktoren, die eine Essstörung begünstigen, eben in eine solche übergehen.
Essstörungen können als Lösungsversuche für Probleme verstanden werden, die die Betroffenen auf andere Weise nicht bewältigen können.
Warum sind es vor allem Mädchen und junge Frauen, die unter Magersucht und Bulimie leiden?
Erika Eisenbart: Die Entstehung einer Essstörung ist komplex. Meist spielen mehrere Faktoren zusammen, die sich auch gegenseitig beeinflussen.
So können genetische Faktoren, wie die erbliche Veranlagung zur Erkrankung beitragen. Daneben gibt es auch, wie bereits erwähnt, persönliche Faktoren, wie beispielsweise ein niedriges Selbstwertgefühl, hohe Ansprüche an Aussehen, Figur und Gewicht und noch einige weitere.
Persönliche Erfahrungen der Betroffenen können eine große Rolle spielen, diese können reichen von traumatischen Erfahrungen, Anerkennung nur über Leistung und Aussehen, Vorbild im sozialen Umfeld beim Umgang mit Essen etc. Insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen ist der gesellschaftliche Einfluss nicht zu unterschätzen. In westlich geprägten Industrienationen herrschen vor allem Schönheitsideale vor, die Attraktivität mit Schlankheit und scheinbar perfekten Körpermaßen gleichsetzen.
Alisa Engelmann: Gesellschaftliche Faktoren wie beispielsweise der Trend zur Selbstoptimierung und die sozialen Medien spielen heute eine große Rolle als Auslöser.
Welche Auswirkungen hat eine Essstörung auf den weiblichen Körper?
Alisa Engelmann: Das schnelle und sehr starke Abnehmen bei einer Anorexie führt zu einer ganzen Reihe von körperlichen und psychischen Problemen.
Zum Beispiel bringt der Kalorienentzug den Hormonhaushalt aus seinem Gleichgewicht. Dies hat zur Folge, dass die Periode ausbleiben kann. Eine häufige Begleiterkrankung ist die Osteoporose. Bei dieser Skeletterkrankung kommt es zu einer Abnahme der Knochenmasse und der Knochendichte.
Erika Eisenbart: Bei einer Esssucht können Übergewicht, und die Folgen davon, zu weiteren Gesundheitsfolgen führen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme, Gelenkprobleme und auch psychischen Folgen wie Rückzug, Depression etc.
Bei der Bulimie kommt es zur Störung des Elektrolythaushaltes, ggf. auch mit Folgen für die Herzgesundheit, zur Schädigung der Speiseröhre oder der Zähne. Hier besteht auch die psychische Belastung der Entdeckung, denn die Betroffenen wirken nach außen oft perfekt und als ob sie alles im Griff hätten, aber sie persönlich kennen das Drama des unkontrollierten Essens und dem selbst herbeigeführten Erbrechen, was von den Betroffenen selbst oft als „pervers“ beschrieben wird.
Die anfangs als perfekt erlebte Kontrolle über das Essverhalten erweist sich zunehmend als unkontrollierbar, doch die Angst bei normaler Ernährung dann die Kontrolle über den Körper, das Aussehen ganz zu verlieren ist mindestens genauso beängstigend.
Oft wird der Gesellschaft eine Mitverantwortung zugeschrieben. Wie sehen Sie das?
Alisa Engelmann: Bei der Entstehung einer Essstörung können wie erwähnt in der Regel viele komplexe Faktoren beitragen. Der Einfluss der Gesellschaft mit seinen unrealistischen Schönheitsidealen ist durchaus nicht zu ignorieren. Vermittelt wird dieser stets in Werbung, Filmen und Serien, Casting-Shows wie GNTM oder auf Social Media. Insbesondere über Social Media gibt es eine Bilderflut von scheinbar perfekten Körpern. Dies kann zu einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper beitragen. Der Druck sich mit diesen Idealen zu Vergleichen und mithalten zu müssen, ist groß.
Was raten Sie ganz konkret dem Umfeld einer Betroffenen, wie es am besten reagieren soll, falls sich ein krankhaftes Verhalten abzeichnet?
Alisa Engelmann: Es muss gesagt werden, dass die Anorexie eine psychische Krankheit mit schwerwiegenden körperlichen Folgen ist. Sie ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterberate: Etwa zehn Prozent aller Betroffenen sterben entweder an körperlichen Komplikationen oder durch Suizid. Da die Heilungschancen umso besser sind, je früher professionelle Unterstützung erfolgt, ist es wichtig, die Betroffene zu motivieren, sich beispielsweise an eine Beratungsstelle zu wenden. Oft hilft es, wenn Angehörige oder Freunde anbieten, dass sie die betroffene Person dorthin begleiten.
Erika Eisenbart: Es ist damit zu rechnen, dass die Betroffenen durchaus gute Strategien haben, die Störung zu verdecken, zu leugnen. Dabei geht es nicht zuletzt auch um die gewünschte Autonomie, die Kontrolle über etwas zu haben, aber auch die Angst grenzenlos zuzunehmen, die Kontrolle ganz zu verlieren. Umso wichtiger ist es zu signalisieren, dass man das Problem sieht, dass man sich nichts vormachen lässt und dass man aus Sorge und aus Interesse an dem Menschen ein Hilfsangebot anstrebt. Dabei braucht es manchmal Ausdauer, Geduld, aber auch konsequentes Handeln.
Alisa Engelmann: Bei massivem Gewichtsverlust ist zudem dringend medizinische Hilfe zu suchen!
Wie können Sie als Suchtberatungsstelle Betroffenen und/oder Angehörigen helfen?
Alisa Engelmann: Suchtberatungsstellen sind erste Anlaufstellen. Es erfolgt ein vertrauensvolles Ankommen und eine erste Einschätzung der Problematik. Im weiteren Verlauf wird gemeinsam mit der betroffenen Person nach einer passenden therapeutischen Weiterbehandlung gesucht und bei Bedarf auch bis zum Beginn einer Maßnahme begleitet.
Erika Eisenbart: Bei der Beratungsstelle bekommen auch Angehörige professionelle Unterstützung. Angehörige „verstehen“ das Verhalten oft nicht, denn wer keine Essstörung hat, kann oft nicht nachvollziehen, warum jemand nicht isst, panische Angst hat zuzunehmen oder mit dem Essen nicht aufhört, obwohl Übergewicht droht. Angehörige bekommen fachliche Information, können ihr eigenes Verhalten bzw. die Auswirkungen der Problematik auf ihr eigenes Befinden reflektieren und ggf. auch die, für sie notwendigen und sinnvollen Schritte, z. B. Verantwortung an die Betroffene zurück zu geben, mit fachlicher Unterstützung gehen.
Was sind Ihrer Erfahrung nach die nachhaltigsten Präventionsmöglichkeiten?
Erika Eisenbart: Am nachhaltigsten wäre es natürlich, wenn Kinder sowohl im Elternhaus, in den Kindergärten und in der Schule ein gutes Selbstbewusstsein entwickeln können, sie dort Stärke entwickeln dürfen. Wichtig wäre das Vermitteln von Anerkennung als Person, mit Stärken und Schwächen – „Du bist okay so wie du bist!“. Der Slogan: Kinder stärken, der in verschiedenen anderen Zusammenhängen ja schon gebräuchlich ist, drückt es m. E. gut aus.
Präventiv notwendig ist Vertrauen und Zuverlässigkeit im Kontakt mit Bezugspersonen und das Erlernen von Konflikt-, Problem- und Medienkompetenz, um auch mit schwierigen Situationen umzugehen und um sich nicht von der Scheinwelt der „perfekten“ Vorbilder blenden und verführen zu lassen.
Vielen Dank für das Gespräch!